Jazz_News_29.04.25
Silje Nergaard Romantik ohne Make-Up

Silje Nergaard Romantik ohne Make-Up

Silje Nergaard stammt aus dem Hohen Norden Europas, präziser aus Norwegen - „eine Hochburg für Melancholiker“, wie die aparte Blondine gleich zu Beginn des Gesprächs nicht vollkommen ironisch betont. Silje hat knapp vier Dekaden einer eindrucksvollen Karriere hinter sich, doch mit ihrem aktuellen 18. Album „Tomorrow We’ll Figure Out The Rest“ legt die 58-jährige ihr bisheriges Meisterstück vor. Lolitahaft und geradezu erschreckend klar kommt ihre Stimme daher, doch sollte man sich von diesem Eindruck nicht täuschen lassen:

Nergaards Organ zieht einen rasch und dann immer tiefer in einen emotionalen Strudel, dem man schließlich kaum mehr entkommen kann und irgendwann erliegt. Hängt sicher damit zusammen, dass die Lady aus dem 20.000-Einwohner-Städtchen Steinkjer sich im weiten Spektrum von Jazz, Ethno und Pop tummelt, in keinem darin je verloren geht und stets mit einer unterschwelligen Dramatik punktet.
„Ich bin zwar Mutter von zwei wunderbaren Töchtern und einem Adoptivsohn aus Äthiopien“, schwärmt die Skandinavierin, „doch richtig erwachsen scheine ich niemals zu werden. Ich bin ewige Träumerin! Und genau dieser Aspekt kommt meiner traumverhangenen Musik immens zugute“, lacht sie vergnügt. „Musik ist meine einzige Möglichkeit, dieses kuriose Dasein auf Erden zu verstehen. Deshalb kann es für mich ein Leben ohne die Droge Musik niemals geben.“
Silje Nergaard scheint eine rundum zufriedene Person zu sein. Wobei: Seit 1998 und bis 2022 führte sie eine vordergründig glückliche Ehe mit dem dänisch-norwegischen Musiker Heine Totland und sagte immer wieder in früheren Interviews: „Zum Glück ist mein Gatte ebenso Sänger, er versteht und ergänzt mich perfekt.“ Auch heute, knapp drei Jahre nach der offiziellen Trennung, verliert die Frohnatur kein böses Wort über den Ex. „Wir sind richtig gute Freunde“, schnurrt sie ins Telefon. „Nur eben kein Paar mehr.“
Da die Blondine mittlerweile solo durchs Leben wandelt, hat sie sehr viel Zeit für das Kreieren neuer Musik. Die Künstlerin behauptet selbstbewusst, dass der aktuelle Geniestreich ihr „bislang romantischstes Album“ ist. „Allerdings verfügt es über eine Romantik ohne Make-Up“, fügt Nergaard hinzu, „ich assoziiere mit Romantik zunächst mal Unverfälschtheit und radikale Klarheit. Manche der Geschichten, die ich in meinen Liedern erzähle, mögen zunächst unheilvoll wirken. Letztendlich aber siegt stets die Hoffnung, die Liebe. Und wenn die Hoffnung nur darin besteht, sich aus einer unglücklichen Beziehung zu befreien. Wie ich durch meine Scheidung.“
Ansonsten gibt es eine Art „roten Faden“ zwischen den zehn Titeln des neuen Werks, erklärt die Norwegerin: „Zusammen gehalten werden sämtliche Lieder vom Zauberwort „Erinnerung“. Es geht um Begegnungen aus der Vergangenheit mit Menschen, die mich auf verschiedene Art und Weise beeindruckt haben. Und um persönliche Erfahrungen, die mich bis heute bewegen und die es zu verarbeiten galt. Allen voran stehen meine Eltern. Nicht umsonst ist ein altes Foto von ihnen auf dem Cover der neuen Platte zu bewundern.“
Tatsächlich strotzt die Platte vor gerne erstaunlicher, gelegentlich schmerzhafter Intimität. „Als ich vor einigen Jahren zu Besuch im Haus von Mama und Papa war, die übrigens beide noch leben und um die 90 sind“, schwelgt sie, „habe ich eine Menge Gegenstände aus meiner Kindheit und Jugend gefunden. Neben dem schon erwähnten Bild war das beispielsweise eine Kassette, auf der in ziemlich mieser akustischer Qualität meine Eltern und ich als gerade mal Fünfjährige zusammen norwegische Volkslieder singen.
Ich wollte kurze Auszüge dieses Mitschnitts unbedingt auf „Tomorrow We’ll Figure Out The Rest“ dabei haben. Also habe ich Fragmente davon für nicht wenig Geld in einem speziellen Studio weitestgehend auf den aktuellen technischen Stand der Dinge bringt lassen. Das war mir die Sache wert. Schließlich macht so was nur ein einziges Mal im Leben.“
In der Tat möchte die Norwegerin mit ihren Songs letztendlich „Intensität“ und „Atmosphäre“ erzeugen: „Ich hoffe stets“, lacht sie, „dass meine Arbeiten mehr als einfach nur Lieder sind. Dass sie den Hörer in ihren Sog reinziehen, wenn er sich darauf einlässt. Und durch den Umstand, dass dieses Mal auch Groove-Elemente eine Rolle spielen, all dieser urwüchsige Rhythmus, kann durchaus eine archaische Erfahrung gemacht werden.“
Ehe „Tomorrow We’ll Figure Out The Rest“ in Angriff genommen wurde, war Nergaard einmal mehr auf Reisen - „ich trieb mich einige Monate in den entlegensten Gegenden auf diesem Planeten herum, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Ich wollte mich treiben lassen einerseits, aber die Inspiration sollte andererseits nicht zu kurz kommen. Ob in Eritrea, auf den Karibischen Inseln oder in Süditalien, ich habe ungewöhnliche Natur bewundern dürfen und so einige interessante Bekanntschaften gemacht. Daraus zieht meine aktuelle Scheibe unter anderem auch ihren Lebenssaft.“
Von einer einzigartigen, intimen Atmosphäre, meint Nergaard, „sollen auch meine Konzerte stets leben. Jeder Abend wird anders ablaufen. Nur so kann ich gewährleisten, dass jeder Abend etwas Besonderes wird. Ich will meine Arbeit um Himmels Willen nicht analysieren! Wenn ich damit anfange, wird die Magie meiner Musik verschwinden. Doch genau davon lebt alles, was ich tue“, meint sie, die ab Mai auch einige Gastspiele als Quartett in deutschen Hallen absolvieren wird, worauf sie sich bereits heute freut.
Zu hören sein wird ein Potpourri aus Liedern beinahe der gesamten endlos wirkenden Karriere der Skandinavierin. „Aber im Mittelpunkt stehen werden Songs aus der neuen Produktion“, verrät sie. „Dadurch habe ich die Chance, diese Stücke besser kennenzulernen und zu verinnerlichen. Die Musik stammt durch die Bank von mir. Doch die Texte allesamt von Mike McGurk, meinem Hauspoeten seit etlichen Jahren. Er ist Schotte, von Berufs wegen ein Dichter, verheiratet mit einer Norwegerin, er lebt in meiner Nähe mit seiner Familie.“
Silje ist es noch nie schwergefallen, sich in die Gedankenwelt des Briten zu versetzen. „Ich liefere ihm meine Melodien und erzähle ihm grob, was ich beim Komponieren gefühlt habe“, erzählt Nergaard. „Aus diesen Eindrücken, gepaart mit eigenen Empfindungen, bastelt Mike dann neue Lieder. Ach ja, meine Scheidung spielt übrigens keinerlei Rolle in diesem Fall, da die meisten Kompositionen bereits zuvor entstanden sind.“
Musikalisch stecken Medien die zarte Person liebend gerne in die Jazz-Ecke. „Doch das ist höchstens die halbe Wahrheit“, analysiert sie. „Genauso verhaftet bin ich auch Pop-Musik. Im Mittelpunkt steht immer eine gelungene Melodie. Nur wenn diese den Hörer berührt, habe ich etwas für die Ewigkeit geschaffen.“
Der Sound dieses Mal changiert wischen Kammer-Jazz und Pompös-Pop. „Für zweiteres ist einmal mehr der amerikanische Star-Produzent und -Dirigent Vince Mendoza zuständig, der das renommierte norwegische Stavanger Symphony Orchestra geleitet hat“, weiß Silje zu berichten. „Er ist sehr wichtig für das Klangbild mit seinen Arrangements. Wir zwei verstehen uns nahezu blind, wenn wir zusammen arbeiten. Die Texte sind für ihn extrem entscheidend. Er liest sie sehr akribisch, ehe er sich ans Werk macht. Das macht den Stoff so authentisch.“
Nergaard ist die stilistische Vielfalt ungeheuer wichtig, wie sie im Telefonat betont. „Schließlich stecke ich voller unterschiedlicher Emotionen“, sagt sie. „Alle diese versuche ich in sämtlichen Facetten Sound-technisch umzusetzen. Dazu brauche ich die passenden Musiker vor allem an Piano, Schlagzeug und Gitarre. Und eben die richtigen Produzenten. Alle diese Leute kenne ich zu meinem Glück. Und diese seit vielen Jahren,“
Von einer neuen Beziehung wird Silje in ihrem Schaffen aktuell nicht abgelenkt. „Ich fürchte, der arme Kerl hätte es schwer, mich um den Finger zu wickeln“, amüsiert sich das Energiebündel. „Er würde stets im Vergleich mit meinem Vater konkurrieren. Der hat meine Mutter rumgekriegt, weil er überallhin seine Gitarre mitgenommen hat, die ganze Zeit darauf spielte, während er sang. Irgendwann war Mama davon hingerissen. Bringen wir es auf jenen Punkt: Gitarristen mit einer tollen Stimme haben gute Chancen, bei mir zu landen…“ Michael Fuchs-Gamböck

Bild © Hans Olaf Vorsang
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