Pop_News_06.05.22
Die sieben Leben des Dave Gahan

Die sieben Leben des Dave Gahan

Dave Gahan ist das Gesicht von Depeche Mode. Er ist bekannt für seine Bühnenpräsenz und seine tiefe Baritonstimme, aber auch für ein Leben zwischen Exzess, Ruhm und Transzendenzerfahrungen. Es gab Zeiten, da hätte wirklich niemand zu hoffen gewagt, dass Gahan einmal 60 Jahre alt wird. Am 9. Mai ist es soweit. Olaf Neumann ist ihm mehrfach begegnet

Eine Nahtoderfahrung, bei der sein Herz für ein paar Minuten still stand, öffnete ihm die Augen. Der Frontmann von Depeche Mode hielt sich am 28. Mai 1996 in Los Angeles im Sunset Marquis Hotel auf, als er eine Überdosis Speedball - eine Kombination aus Heroin und Kokain - nahm. Künstlern wie John Belushi, Chet Baker, Jean-Michel Basquiat und Philip Seymor Hoffman wurde dieses gefährliche Gemisch zum Verhängnis. Für Gahan blieb es „nur“ eine Grenzerfahrung weniger als ein Jahr nach einem Selbstmordversuch mit Rasierklinge. Nach seiner Überdosis wurde er verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und zu regelmäßiger Drogenberatung und Drogentests verdonnert. Seitdem ist der Sänger clean.
Ein Idyll war sein Leben nie. David ‚Dave’ Gahan wurde am 9. Mai 1962 in Epping bei London in einer Doppelhaushälfte geboren. Sein biologischer Vater mit malaysischen Vorfahren verließ die Familie, als er und seine zwei Jahre ältere Schwester Susan Christine noch sehr jung waren. Seine Mutter, Sylvia Ruth, heiratete erneut und "wir zogen in ein anderes Reihenhaus im sonnigen Basildon, in diese neue Stadt, die neue Welt, wo es grüner ist und es bessere Schulen gibt. Aber es war miserabel", erinnert er sich. Im Grundschulalter erlebte Dave das nächste Trauma: der Stiefvater verstarb unverhofft. Angst setzte sich in seinem Kopf fest.
Der Junge flüchtete sich in die Musik, die ihm Halt geben konnte. "Als ich noch sehr jung war, kamen die Tanten zu Besuch und ich unterhielt meine Mutter, indem ich meine beste Mick Jagger- oder Gary Glitter-Imitation quer durch den Raum machte und alle zum Lachen brachte. Ich war in nichts anderem wirklich gut, aber ich habe gesehen, dass das eine Reaktion hervorruft." Seine ersten öffentlichen Auftritte absolvierte er als Sänger von Weihnachtsliedern bei der Heilsarmee, der seine Mutter angehörte. Eines Tages tauchte zuhause sein leiblicher Vater wieder auf, was Dave sehr verstörte.
Als Teenager in Basildon war er fasziniert von Punk und entwickelte destruktive und zerstörerische Verhaltensweisen. So fand er heraus, dass die Barbiturate, die seine an Epilepsie leidende Mutter einnehmen musste, eine narkotische Wirkung haben. Er verweigerte den Schulunterricht, gab sich mit zwielichten Leuten ab, klaute Autos und floh mit 17 Jahren nach London. Dort lebte er in einem besetzten Haus in King's Cross und spritzte sich das erste Mal Heroin.
1979 lernte Dave Gahan schließlich die Nachwuchsmusiker Vince Clarke, Martin Gore und Andrew Fletcher kennen und arbeitete für sie zunächst als Roadie, später engagierten sie ihn als ihren Sänger. Die Idee zum Bandnamen hatte Gahan, inspiriert durch das französische Modemagazin Dépêche Mode. Bereits ihr Debütalbum „Speak & Spell“ (1981) leitete eine ungeahnte Erfolgswelle ein. Bis heute haben die Synthie-Popper weltweit über 100 Millionen Tonträger verkauft. Hits wie „People Are People“, “Everything Counts”, “Personal Jesus“ oder “Policy Of Truth” machten sie zu einer der erfolgreichsten Band der Welt. Das musste Gahan erst einmal verdauen, und mit der Zeit begann dieser maßlose Lebensstil seinen Tribut zu fordern.
Seine Heroinsucht uferte während Depeche Modes „Songs Of Faith And Devotion"-Tour so sehr aus, dass der damals 31-Jährige nicht nur während eines Konzerts einen Herzinfarkt erlitt, sondern auch einen eigenen Psychiater an die Seite gestellt bekam und allerhand weiteres Chaos verursachte. Er trieb das Spiel mit Alkohol und Drogen so weit, wie er konnte - und landete prompt in verschiedenen Rehabilitationseinrichtungen und Krankenhäusern. Erst als Dave Gahan irgendwo auf dem Weg ins Krankenhaus halbtot auf einer Bahre lag, wurde ihm bewusst, dass er mit seinem Leben nicht mehr zurechtkam. Also zog er die Reißleine, konvertierte zur griechisch-orthodoxen Kirche und begann, endlich eigene Songs zu schreiben. Zum Beispiel darüber, wie er sich dumm gesoffen und eine Menge Zeit sinnlos verschwendet hatte.
2003 veröffentlichte der abstinente Rockstar mit „Paper Monsters“ sein erstes Soloalbum. Stimmlich kann er ziemlich tief gehen, und auch ziemlich hoch, wenn er schreit. Es dauere lange, bis man seine eigene Stimme finde, weiß er. Auf dem Weg dorthin imitiere man all die Dinge, die einen beeinflussen - in seinem Fall Johnny Cash, David Bowie, John Lydon. Erst jetzt fange er wirklich an, seine eigene Stimme zu finden, gestand er 2007. Die düsteren bis fröhlichen Songs auf seinem aktuellen Album ‚Imposter’ (2021) stammen zwar von Bob Dylan, Neil Young oder PJ Harvey, aber Dave Gahan hat ihnen genau zugehört, sie akribisch studiert und ihnen mit Hilfe der Soulsavers und seines markanten Organs neues Leben eingehaucht.
Wie fällt sein persönliches Resümee nach vier Jahrzehnten in seinem Beruf aus? „Ich habe das Glück, seit 1980 dabei zu sein“, stellt er zufrieden fest. „Musik nimmt dich mit auf eine seltsame Reise. Sie zu hören ist sehr informativ. Sie hilft mir, meinen Weg durch mein Leben zu finden. Wenn man sich zum Beispiel ‚The Imposter’ anhört, hört man nicht nur die Songs, sondern auch meine Stimme und das Zusammenspiel der Band. Man ist Zeuge, wie wir darum kämpfen, etwas aus dem Moment herauszuholen.“
Nach zwei gescheiterten Ehen lebt Gahan seit Ende der 1990er Jahre mit seiner heutigen Frau Jennifer, deren Sohn Jimmy und der gemeinsamen Tochter Stella Rose in New York City. Während der Depeche-Mode-Welttournee von 2009 wurde ihm erfolgreich ein bösartiger Tumor in der Blase entfernt. „Erfahrung macht das Leben reicher und leichter“, weiß Gahan. Er lerne auch immer noch etwas dazu, speziell bei der Arbeit mit den Soulsavers. „In den letzten Jahren konnte ich als Songschreiber immer mehr Selbstvertrauen gewinnen, ich kann mein Potential heute viel besser ausschöpfen als früher. Vor den Soulsavers war mir gar nicht bewusst, wozu ich alles fähig bin. Das Schöne ist, diese Erfahrungen werden mir beim nächsten Depeche-Mode-Album sehr nützlich sein.“
Nur mit Martin Gore und Andrew Fletcher zu arbeiten, genügt ihm allerdings schon lange nicht mehr. Gern geht er auch mit anderen Programmierern, Produzenten und Musikern ins Studio, denn dann „fühle ich mich mehr inspiriert. Wenn ich das nicht täte, würde ich es mir zu bequem machen. Nach 40 Jahren muss man sich schon anstrengen, um herauszufinden, wie man immer noch mit Leidenschaft dabei ist.“ Olaf Neumann

Bild: Dave Gahan – Credit: Spencer Ostrander
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