Instruments_News_11.05.22
Viele Tränen vergossen

Viele Tränen vergossen

Er ist der berühmteste Geiger der Gegenwart: David Garrett. Mit drei Millionen verkauften Alben und drei Dutzend Gold- und Platin-Auszeichungen sowie Millionen verkauften Tickets wird der gebürtige Aachener vom Publikum geliebt und von Puristen geschmäht. Mit seiner Mixtur aus E- und U-Musik will der 41-Jährige Menschen erreichen, die der Klassik sonst fern blieben. Soeben ist seine Autobiografie „Wenn ihr wüsstet" erschienen. Darin erzählt David Garrett, wie er als Kind von seinem Vater mit dem Geigenbogen gedrillt wurde und später den Musikerolymp erklomm. Die Fragen stellte Olaf Neumann

Herr Garrett, Ihre Autobiografie „Wenn ihr wüsstet" ist mehr als nur ein Lesebuch. Mithilfe von QR-Codes lassen sich unveröffentlichte Bilder, Videos und Tonaufnahmen aus Ihrem Archiv abrufen. Kam dabei selbst für Sie Überraschendes zutage?

David Garrett: Nein, ich habe ein tolles Gedächtnis und vergesse fast nichts. Ich habe anhand der Geschichten in meinem Buch das Material herausgesucht, von dem ich wusste, dass es existiert. Es zu finden, zu sichten und zu digitalisieren war eine Riesenaufgabe. Für mich war klar, dass das Buch sehr lebendig wird, wenn man eine Geschichte auch visuell anhand eines Videos darstellt. Es ist weltweit die erste Autobiografie, in der QR-Codes benutzt werden.

Erinnern Sie den Moment, von dem an Sie von der Geige besessen waren?

Garrett: Besessenheit ist der falsche Ausdruck, es ist eher Faszination. Anhand der Videos kann man sehr schön meine musikalische Entwicklung nachvollziehen. Mit vier Jahren hört sich mein Spiel noch ein bisschen nach Kraut und Rüben an, aber schon mit sieben oder acht spielte ich bereits auf einem sehr hohen technischen Niveau. In der Zeit muss meine Faszination für die Geige sehr groß gewesen sein, sonst ließe sich solch eine Entwicklung nicht erklären.

Für Sie kam von Anfang an nichts anderes als Perfektion infrage. Liegt das an Ihrem absoluten Gehör?

Garrett: Das liegt eher an meinen Eltern, die mir die Perfektion auf ihre Art und Weise vorgelebt haben. Als Kind übernimmt man bestimmte Charakterzüge der Eltern, die entsprechende Erwartungen haben. Diese will man auch erfüllen. Perfektion ist mir nicht in die Wiege gelegt worden, sondern ich habe sie mir durch die Umstände angeeignet.

Mit fünf Jahren belegten Sie bereits den 1. Platz bei „Jugend musiziert". Hat das mit dem Spielen nur funktioniert, weil Ihr Vater eine lückenlose Kontrolle über Sie ausübte?

Garrett: Ja natürlich. Das erste, was ich morgens vor dem Kindergarten gemacht habe, ist üben. Ich habe von Anfang an gemerkt, dass das eine ernstzunehmende und sehr wichtige Sache ist. Klassische Musik war die große Leidenschaft meines Vaters. Das Musizieren hatte für mich als Kind vielleicht auch spielerische Ansätze, aber üben bedeutete immer Disziplin und Konzentration. Wenn ich einmal nicht konzentriert war, wurde das auch nicht als etwas Positives erachtet. Es war immer Arbeit.

Ihr Bedürfnis nach Harmonie sei stärker als der Frust gewesen, weshalb Sie das quälende Üben in Kauf genommen haben. Sie haben sogar nachts heimlich geübt, um die Unbeschwertheit in der Familie wiederherzustellen. Wie viele Tränen haben Sie in der Zeit vergossen?

Garrett: Mit Sicherheit viele. Ich kenne auch kein Kind, das nicht aus verschiedenen Gründen geweint hat. Bei mir war das schon immer sehr verbunden mit üben. Es ist eine ganz harte Aufgabe, solch ein Instrument zu erlernen. Ganz klar, dass man da auch Enttäuschungen seitens der Eltern erlebt oder selber von sich enttäuscht ist. Natürlich hatte ich gefühlstechnische Tiefpunkte.

Wie haben Sie sich wieder aufbauen können?

Garrett: Durch die Musik. Sie ist für mich ein zweischneidiges Schwert. Durch das Geigenspielen hatten ich als Kind Tiefpunkte, weil ich daran knallhart arbeiten musste. Auf der anderen Seite hat die Musik mich immer wieder zurück zu meinem Instrument gebracht.

Die weltberühmten Geiger und Dirigenten, die Ihren Weg kreuzten, hatten Erwartungen an Sie, die „niemals zu erfüllen waren". Wie sind Sie damit umgegangen?

Garrett: Die Erwartungen, die an mich gestellt wurden, waren mir schon klar, denn ich bekam sie zuhause gesagt. Es waren die höchsten Erwartungen. Und ich habe sie größtenteils auch gegenüber den großen Dirigenten erfüllt, die mich gehört haben. Sie hätten mich sonst ja nicht eingeladen. Die Erwartungen habe ich nicht nur erfüllt, sondern meistens sogar übertroffen. Die Vorspiele waren die Kür und das Üben zuhause die Pflicht.

Ihre Lehrerein Ida Haendel - eine der größten Geigerinnen des 20. Jahrhunderts - erklärte Ihnen einmal, Ihre Seele sei in Wirklichkeit viel älter als Ihr wahres Alter vermuten ließ. Kamen Sie sich als Kind eher wie ein Erwachsener vor?

Garrett: (lacht) Ich kam mir als Kind wahrscheinlich erwachsener vor als jetzt. Durch den hundertprozentigen Fokus auf die Musik habe ich mich schon sehr früh erwachsen gefühlt. Mir wurde nahe gebracht, dass ich mich als Kind in der Welt der Erwachsenen beweisen muss. Dementsprechend seriös habe ich mich aufgeführt und das Kindliche ganz schnell abgelegt, weil das nicht zum Erfolg führt. Ich muss heute immer noch meine Pflichten erfüllen, üben, planen und mich auf Dinge konzentrieren, aber den Mount Everest des Erlernens zu erklimmen, war in meinem Leben wahrscheinlich das Schwierigste.

Ist jeder Ton Schwerstarbeit?

Garrett: Am Anfang ja. Nicht nur jeder Ton, sondern auch die Natürlichkeit in den Bewegungsabläufen hinzubekommen. Das Selbstverständliche, das Nicht-Nachdenken-Müssen beim Spielen entsteht nur, wenn du unglaublich lange Zeit über Dinge nachdenkst, die dir dann wirklich in Fleisch und Blut übergehen. Gewisse Griffe der Feinmotorik musst du dir als Kind einfach einprogrammieren.

Mit 13 haben Sie das Beethoven Violin-Konzert am Tag der Deutschen Einheit gespielt, mit 14 sind Sie mit Claudio Abbado in der Mailänder Scala aufgetreten. Denken Sie rückblickend, dass der große Erfolg für Sie etwas zu früh kam?

Garrett: Nein, ich finde das großartig! Es soll nicht arrogant rüberkommen, aber es ist schon sensationell. Ich kann als Erwachsener die Faszination von mir als Kind nachvollziehen. Mir war das damals selbst nicht bewusst, aber wenn ich mir heute Videos anschaue oder Aufnahmen anhöre, die ich mit 12, 13 oder 14 Jahren gemacht habe, finde ich das großartig. Ich weiß nicht, wie ich es so schnell gemacht habe, weil es ewig her ist. Es ist für mich ein Stück weit ein Mysterium. Vieles geschieht beim Spielen instinktiv, weil ich wahnsinnig viel gearbeitet und geübt habe.

Mit welchen Gefühlen haben Sie sich die Videos und Bilder von damals noch einmal angesehen?

Garrett: Ich habe die ganzen VHS- und Super-8-Kassetten von zuhause digitalisieren lassen und mir dann das herausgesucht, was ich besonders schön oder interessant finde. Zum Beispiel Videos von mir als Anfänger. Das hört sich wirklich nicht gut an, aber aller Anfang ist schwer. Kein Genie fällt vom Himmel. Der Begriff „Wunderkind“ ist ein Publicity-Gag. So toll ich mit sieben Jahren schon gespielt habe, war ich mit fünf kein Wunderkind. Das habe ich mir alles erarbeitet.

Ist das absolute Gehör Voraussetzung für eine Karriere wie die Ihrige?

Garrett: Ich sehe das nicht als Riesenvorteil. An der Juilliard School war es für Studenten viel einfacher, Musik in verschiedenen Schlüsseln zu lesen. Das absolute Gehör kann beim Komponieren ganz schön hinderlich sein.

Später wurde der große, unnahbare Geiger Isaac Stern Ihr Lehrer. Hat er Ihnen verraten, wie man ein Musiker „von eigenen Gnaden“ wird?

Garrett: Fast alle Musiker haben versucht, mir das so gut wie möglich näher zu bringen. Wenn man große Musik spielt, muss man sich auch ein Stück weit mit deren Komponisten, deren Historie beziehungsweise der Struktur und dem Aufbau einer Komposition beschäftigen. Warum hat er es so geschrieben und nicht anders? Man darf nicht aus Egoismus Musiker werden, sondern man ist als Interpret Diener eines großen Künstlers.

Lassen Sie bis heute niemals die Zügel schleifen?

Garrett: Musik machen ist wie Hochleistungssport. Ein gewisses tägliches Übungspensum darf man nicht vernachlässigen, sonst bekommt man Schwierigkeiten bei den technischen Herausforderungen. Alles, was man spielt, sollte eine Leichtigkeit besitzen. Deshalb muss man das Fundament der Technik jeden Tag polieren.

Die „Capricen" von Paganini sind das technisch schwierigste Geigenstück überhaupt. Sie haben es als Teenager für die Deutsche Grammophon eingespielt - unter Schmerzen.

Garrett: Mit 15 Jahren! Ich bin bis heute der Jüngste, der die 24 Capricen jemals aufgenommen hat. Natürlich würde ich es heutzutage anders machen, aber in dem Alter so etwas überhaupt einspielen zu können, ist eigentlich unmöglich. Ich kann das gut einschätzen.

Von Zubin Mehta haben Sie eine Grundregel des Musikgeschäfts gelernt: Kranksein ist verboten. Wie oft sind Sie in Ihrem Leben mit Fieber oder mit Schmerzen in den Gliedern aufgetreten?

Garrett: Bestimmt viele Male. In Indien mit Zubin Mehta bin ich zum Beispiel mit knapp 40 Grad Fieber auf die Bühne gegangen. Eine krankheitsbedingte Absage kann dir einmal passieren, aber beim zweiten Mal wird es unangenehm, weil das Musikmachen auch ein Geschäft ist. Pünktlichkeit ist sehr wichtig, wenn du diesen Beruf viele Jahre erfolgreich ausüben möchtest. Mit einer Krankheit, einer Erkältung oder Bronchitis muss ich auf die Bühne, habe ich eingeimpft bekommen. Vor einem Konzert in der Berliner Wuhlheide habe ich einmal wegen einer Bronchitis eine Vitamininfusion bekommen. Es läuft in meinem Beruf anders als im Büro. Krankschreibungen sind ungerne gesehen, wenn 10.000 Leute in der Halle sind.

Der Weg zum Erfolg führt über den eisernen Willen?

Garrett: Ja. Wenn du ein diszipliniertes Leben führst, ist der eiserne Wille gar nicht so schwer. Wenn du aber vor Konzerten immer nur in der Bar sitzt, ist von dir auch nicht viel Disziplin zu erwarten. Du musst wissen, wann du dir Pausen gönnen darfst und wann nicht.

Wie lange gab es für Sie kein Leben jenseits der Musik?

Garrett: Bis ich meine ersten Schritte in London gemacht hatte. Mein soziales Leben war gleich null – bis auf die Mitschüler bei den diversen Geigenlehrern. Mein eigentliches Privatleben fing nach dem Abitur an bei dem ersten Versuch in London und anschließend beim Studium in New York.

Haben Sie sich in den prägenden Anfangsjahren oft gefragt: Ruiniere ich meine Karriere, wenn ich Zeit für mich brauche?

Garrett: Am Anfang meiner Teenagertage gaben meine Manager mir ein stückweit zu verstehen: Bloß keine Freundin und nur auf die Musik konzentrieren! Bloß keine falschen Einflüsse! Das war rückblickend schon sehr merkwürdig, aber so war es halt.

Die Idee, Crossover zu spielen, hatten Sie bereits auf der exklusiven Juilliard School in New York?

Garrett: Ja, das hat sich peu à peu in meine Musik eingeschlichen. Ich war auf der Schule beileibe nicht der Einzige, der sich für Musik jenseits der Klassik interessierte. Die Geiger hören nicht nur Bach, Beethoven und Brahms, ihr Geschmack ist genauso vielseitig wie der jedes anderen Menschen. Für mich war es spannend, die Musik, die ich privat gerne höre, auf meinem Instrument zu arrangieren.

Wie hat Ihr Vater reagiert, als Sie anfingen, Crossover zu machen?

Garrett: Mein Vater liebt, was ich mache - in der Klassik und außerhalb. Ich würde sogar behaupten, dass er mein größter Fan ist. Aber natürlich hatte mein Vater – so wie viele andere – Vorurteile gegenüber der Crossover-Musik, als ich damit anfing. Man kann ihm das nicht übel nehmen, weil er auch ein bisschen besorgt war, vielleicht sogar zu recht. Wenn man so etwas wie ich macht, bekommt man Gegenwind, und die Kritiker werden bei deinen Klassikkonzerten doppelt und dreifach aufpassen, wie gut du spielst. Es ist kein leichter Weg. Man weiß auch nicht, ob er überhaupt funktioniert. Aber ich wollte ihn gehen, weil Crossover meine Leidenschaft ist. Fairerweise muss ich sagen, dass ich meinem Vater die Angst, mich nicht mehr seriös mit der Klassik zu beschäftigen, sehr schnell nehmen konnte. Ich habe immer wieder spannende Projekte mit tollen Orchestern und erstklassigen Dirigenten realisiert. Gerade habe ich mein neues Klassikalbum „Iconic“ für die Deutsche Grammophon aufgenommen, welches im Herbst erscheinen wird.

Dieses Jahr wollen Sie endlich Ihr aktuelles Crossover-Album „Alive - My Soundtrack“ auf einer Tournee vorstellen.

Garrett: Ja, das stimmt. Die eigentlich für den Januar gebuchten Termine mussten wir auf Grund von Covid-19 in den September und Oktober verschieben. Aktuell sieht es sehr gut aus, dass wir im Herbst auch wieder Vollgas werden geben können.


David Garrett: „Wenn ihr wüsstet" (Heyne, 368 S., € 22,-) – VÖ: 8.3.2022.



David Garrett

Geboren als David Christian Bongartz am 4. September 1980 in Aachen. Sein Vater Georg Paul Bongartz ist Jurist, Musiklehrer und Geigenauktionator, seine Mutter Dove-Marie Garrett Primaballerina. Bereits mit 14 nimmt er sein erstes Album "Violin Sonata" auf. Mit 15 spielt er mit Claudio Abbado Mozarts Violinkonzerte ein. 2001 wird David Garrett Student der Meisterklassen von Itzhak Perlman und Isaac Stern an der Juilliard School of Music in New York. Nach dem Studium beginnt er, sich für die Stilrichtung "Crossover" zu interessieren - einen Mix aus Klassik und Pop. Seine Platten "Virtuoso" (2007), "Encore" (2008) und "Rock Symphonies" (2010) verkaufen sich auf der ganzen Welt millionenfach. Garrett wird im Lauf seiner Karriere mit zahlreichen Preisen wie dem Echo-Klassik, der Goldenen Kamera, der Goldenen Feder sowie Platin- und Doppel-Platin-Schallplatten ausgezeichnet. Von 2008 bis 2010 steht er auch als schnellster Geiger der Welt im Guinness-Buch der Rekorde. 2013 spielt er Niccolò Paganini in der Filmbiografie "Der Teufelsgeiger". 2017 und 2018 legt er nach einem Bandscheibenvorfall eine Auszeit ein. 2019 veröffentlicht er das Album "Greatest Hits - Unlimited". David Garrett lebt in Berlin und New York. on




David Garrett live 2022:
21.07.2022, Regensburg, „Thurn und Taxis Schlossfestspiele“
22.07.2022, Linz, „Klassik am Dom“
23.07.2022, Linz, „Klassik am Dom“
25.08.2022, Bad Hofgastein, Talstation Schlossalmbahn
26.08.2022, Wien, Krieau
27.08.2022, Graz, Messe Freigelände
28.08.2022. Klagenfurt, Wörthersee Stadion Freigelände
18.09.2022, Hamburg, Barclaycard-Arena
20.09.2022, Leipzig, Arena
21.09.2022, Berlin, Mercedes-Benz Arena
23.09.2022, Stuttgart, Hanns-Martin-Schleyer-Halle
25.09.2022, Zürich, Hallenstadion
27.09.2022, Köln, LANXESS-arena
28.09.2022, Nürnberg, Arena Nürnberger Versicherung
29.09.2022, München, Olympiahalle
01.10.2022, Schwerin, Sport- und Kongresshalle
02.10.2022, Erfurt, Messehalle
http://www.rt-konzerte.de/david-garrett-band-live-tourdates-tickets/

Bild: @Christoph Köstlin
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