Pop_News_15.09.23
Faust - Der Avantgarde-Hammer

Faust - Der Avantgarde-Hammer

Die frühen 70er waren in Deutschland musikalisch gesehen eine absolut wilde, unberechenbare Ära. Zumindest im Untergrund hatten Bands wie Can, Amon Düül II oder Neu! das uneingeschränkte Hoheitsrecht, was den „Unberechenbarkeits-Faktor“ anging. „Krautrock“ wurde dieses Phänomen so verwundert wie beeindruckt von der ausländischen Presse tituliert.
Am Unberechenbarsten war freilich eine Formation namens Faust. Gegründet 1970 in Hamburg, damals namenlos, unterzeichneten die selbst ernannten „genialen Dilettanten“ ein Jahr später den ersten Plattenvertrag mit dem Major-Label „Polydor“. Zwei Alben entstanden, beide blieben weit hinter den Verkaufserwartungen der Firma zurück. Wohl weil zu viel avantgardistisches Zeug darauf zu hören war - skurril, einzigartig, bis dato ungehört. Selbst der Hippie-Normalverbraucher blieb gerne mal ratlos beim Hören zurück.
Der englische „Virgin“-Label-Chef Richard Branson wurde dennoch auf die ungewöhnliche Band aufmerksam und bot ihr einen Kontrakt an. Faust akzeptierten, siedelten nach London über, nahmen zwei heute als legendär angesehene Schallplatten auf. Doch auch diese erzielten kaum Aufmerksamkeit und mehr als schleppende Verkaufserlöse. Geschäftsmann Branson, der inzwischen mit dem Millionenerfolg seines Schützlings Mike Oldfield und dessen Debüt „Tubular Bells“ zum reichen Mann avanciert war, stieß die „Fäustlinge“ ab und überließ sie ihrem Schicksal.
Die eigenwillige Chaos-Crew um Schlagzeuger Werner „Zappi“ Diermaier, Sänger sowie Gitarrist Jean-Hervé Peron und Multi-Instrumentalist Hans-Joachim Irmler, heute allesamt über 70, löste sich auf, man widmete sich Solo-Projekten. Immer wieder kam der Dreier samt verschiedenen Gastmusikern zusammen, doch es knirschte gehörig im Kosmos der Alpha-Tiere. 2023 gehen die „Avantgarde-Anarchisten“ nun endgültig und seit langem getrennte Wege, es existieren drei verschiedene FAUST-Versionen.
Trotzdem erschien bereits im März eine Kompilation mit bislang unveröffentlichten Aufnahmen, schlicht „Momentaufnahme I“ bzw. „Momentaufnahme II“ betitelt. Deren Aufnahmen schafften es nicht mehr auf die legendäre 8-Platten-Box „1971 - 1974 (50 YEARS of FAUST)“ von 2021, weshalb sie zu einer Doppel-CD kompiliert wurden.
Und die will beworben werden, via Mail-Interview. Der skurrile Faust-Mastermind Jean-Hervé Peron (74), Sänger und Multiinstrumentalist sowie Gründungsmitglied, steht tonart und Michael Fuchs-Gamböck Rede und Antwort.

Wenn du dir rückblickend das FAUST-Gesamtwerk der Jahre 1971 - 1974 anhörst, in welchen die „Momentaufnahmen“ entstanden sind - ergibt sich daraus eine schlüssige Einheit, oder habt ihr euch mit jedem Album neu erfunden?
Das frühe Gesamtwerk ergibt keine Einheit, dafür eine Art radikales Muster. Wir machten keine Gefangenen, während wir spielten. Später wurden wir melodiöser, ohne den Spannungs-Pegel wegzunehmen. Ich bereue jedenfalls nichts.
Wir waren sehr unterschiedliche Charaktere. Unsere Basis war die Improvisation. Als wir unsere Instrumente besser zu beherrschen lernten, war die Luft irgendwie raus.
Wie auch immer: Dies war unser Anspruch ab der Gründungsstunde - Musik neu erfinden. Daran haben wir nie gerüttelt. Ansonsten wäre uns schnell langweilig geworden.

Woran liegt es, dass FAUST nach wie vor kulturell relevant sind und einen einzigartigen Stellenwert besitzen?
Wir waren in den 70ern unserer Zeit extrem voraus. Das hat Avantgarde so an sich. Die Türen für diese Musik waren weitgehend verschlossen. Heute sind sie sperrangelweit offen.
Doch wir haben unseren Stellenwert niemals mitbekommen. Für uns war es normal, diesen Irrsinn umzusetzen, den wir gemacht haben.
Während der Produktionsphasen haben wir keine andere Musik gehört. Haben lediglich aus dem geschöpft, was tief in uns verborgen war. Nur auf eine solche Art kann Musik entstehen, die zeitlos ist.

Wie darf man sich die Arbeit an der kultisch verehrten FAUST-Box vorstellen, inwieweit waren die Musiker involviert?
Die Plattenfirma „Bureau B“ kam mit dieser Idee auf uns getrennt voneinander zu. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar. Der Plan war, dass wir alle zusammen an dem Material arbeiten. Doch das wäre nicht gut gegangen. Also hat jeder von uns drei Beteiligten (Peron, Diermaier, Irmler) in Eigenregie digitalisiert.
Der Chef von „Bureau B“ hat alles super organisiert. Trotz schwieriger zwischenmenschlicher Verhältnisse. Ohne ihn gäbe es keine Box.
Ich zögerte lange, ehe ich für das Projekt zusagte. Doch wenn ich mir heute das Ergebnis anhöre, bin ich sehr froh, dass ich es getan habe.

Wart ihr die avantgardistische Antipode zu Radio-Helden wie etwa den Beatles, Rolling Stones oder anderen Mega-Bands?
Ja und Nein. Unser erster Manager hat uns an die Polydor als die „neuen Beatles“ verkauft. Das hat schon bald keiner der dort Verantwortlichen geglaubt, nachdem er unseren Stoff gehört hatte.
Wir haben einige Sekunden von Rolling Stones- oder Beatles-Stücken in Kompositionen integriert, das war zu jener Zeit legal. Ansonsten haben wir uns nie von irgendjemandem beeinflussen lassen.
Tja, wir waren stets dem radikalen Freigeist verpflichtet. Das hat mit der Rock-Attitüde der Rolling Stones oder den Beatles nicht wirklich was zu tun.

Was gibt es über den aktuellen „Beziehungs-Status“ der FAUST-Mitglieder anno 2023 zu berichten, wird es über die Box hinaus musikalisch weitergehen?
Ich antworte diplomatisch: Weder mit „Zappi“ noch mit Irmler habe ich seit langem irgendwelchen Kontakt. Wir waren in meinen Augen echte Freunde. Aber in fünf Dekaden gab es jede Menge Ups und Downs in der Beziehung zueinander.
Trotzdem bin ich mir sicher, dass jeder von uns bis ans Ende seiner Tage Musik machen wird. Nur eben nicht mehr zusammen. Doch das Gesamtwerk von Faust hat Bestand, kraft seiner Originalität. Davon bin ich überzeugt.
Aus meiner Sicht wird das jedenfalls nichts mit einer Reunion. Ich bin definitiv zu alt für so viel Irrsinn. Trotzdem bin ich nach wie vor stolz auf die Veröffentlichung der Box. Dadurch ist jene verrückte, einzigartige Ära meines Lebens - zusammen mit den „Momentaufnahmen“ - endgültig abgeschlossen.
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tonart Ausgabe Frühjar 2024/1

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