Pop_News_15.09.23
Tom Waits – Lebenslanges Zerrbild der USA

Tom Waits – Lebenslanges Zerrbild der USA

Die Plattenfirma „Asylum“ setzte großer Erwartungen in die Zukunft ihres jüngsten Signings: Tom Waits war sein Name. Er sollte der nächste Bruce Springsteen, Randy Newman oder Bob Dylan werden, wenn es nach den Wünschen des etablierten Labels ging. Nichts davon war der schmächtige Kerl aus dem kalifornischen Pomona. Der heute 73-jährige Mann mit der gewöhnungsbedürftigen Nebelhorn-Stimme war einfach nur Tom Waits, ein meist betrunkener Underdog, die akustische Ausgabe der Beat-Literaten Jack Kerouac, William S. Burroughs oder Charles Bukowski, allesamt seine großen lyrischen Heroen.
2023 ist es exakt ein halbes Jahrhundert her, dass „Closing Time“ erschien, das Debüt des Gossen-Dandys. Der renommierte „All Music Guide“ definierte den Erstling vollkommen zurecht als „ein Meisterwerk in Moll, gefüllt mit Liedern über nächtliche Einsamkeit“. Etliche ähnlich orientierter Alben sollten folgen. Doch während „Closing Time“ eine radikale finanzielle Bruchlandung hinlegte, wurde ihr Protagonist mit der achten Scheibe „Rain Dogs“ von 1985 eine kommerzielle wie kreative Konstante, die der Eigenbrötler bis heute ist.
Amerika war und ist das zentrale Thema des Werks von Tom Waits. Er setzt sich vor allem mit der dunklen Seite seiner Heimat auseinander, den trostlosen Aspekten des American Way Of Life. Was bedeutet Amerika für ihn? „Es ist vorrangig ein Ort voller Träume“, meinte ein prächtig aufgelegter Zeitgenosse 1992 im Gespräch. „Das liegt daran, dass hier vor ein paar hundert Jahren viele Menschen voller Wünsche und Hoffnungen aus allen Teilen der Welt zusammenkamen, um diese Nation zu gründen. Sie machten daraus in ihren Köpfen einen fremden, besseren Planeten fern der Erde, an dessen Aufbau sie sich beteiligen wollten. Eine gefährliche Illusion! Natürlich mußte dieses Vorhaben scheitern, weil Menschen daran beteiligt waren. Und je grandioser die Vorstellung von etwas ist, um so grausamer ist der anschließende Fall, wenn diese Vorstellung wie eine Seifenblase zerplatzt.“
Der notorische Ziegenbärtchen-Träger fuhr launig fort zu analysieren: „Amerika ist für mich wie eine dieser elektrischen Spielzeugpuppen, die lachen, Pfötchen geben und „Guten Tag“ sagen können. Eine seelenlose Maschine mit makellosem Auftreten, hinter der sich bei genauerer Betrachtung der Kerl mit den Hörnern, dem bösen Lachen und dem stinkenden Atem verbirgt. Ich beschäftige mich wahrscheinlich immer deshalb mit der dunklen Seite meiner Heimatnation, weil ich den Teufel bloßstellen will. So habe ich eine Chance, dass er aus meinem Leben verschwindet. Diesen Gedanken verfolge ich schon seit „Closing Time“.“
Aber warum begeistert der Singer/Songwriter sich bei dieser Teufelsaustreibung stets für die Verlierer und Außenseiter der Gesellschaft? Ist er selbst einer? „Nein“, wies Waits diese Ansicht in einem Pariser Straßencafé, einen Café au lait vor sich, da er bereits damals (und es bis heute ist) Anti-Alkoholiker war, im Sommer 1992 weit von sich. „Genauso wenig übrigens wie die Figuren in meinen Texten. Die wurden zwar oft vom System und von der Gesellschaft getreten, sie waren übergangen worden. Aber sie haben meistens trotzdem einen ziemlich grandiosen Spaß am Dasein.“
Es handelt sich um Figuren, welche den Hörer ziemlich stark an die Hauptpersonen in Jack Kerouacs Kult-Millionenseller „On the road“ erinnern. Kerouac hat stets die Straße verherrlicht, hat sie als „Schlüssel zum Himmel“ bezeichnet, weil man auf ihr die Freiheit hat, die Richtung zu wählen, weil sie einen überall hinführt und weil sie permanente Bewegung symbolisiert. Die Straße war - früher noch mehr als heute - für den ewigen Underdog Waits ebenfalls eine Form der Religion. Ein Bursche, der nicht umsonst viel in seinem Leben herumgekommen ist.
„The road übt sicher eine gewaltige Faszination auf mich aus“, schwärmte Waits in jener Phase seines Lebens. „Als Musiker bist du ja zwangsläufig mit ihr verbunden, das bringt der Beruf so mit sich. Wenn du als Musiker etwas werden willst, mußt du deine Lieder von Stadt zu Stadt tragen und den Menschen überall vorstellen.
So gehen Songs und Straße irgendwann eine Art Symbiose ein, ergänzen sich, verschmelzen miteinander. Genau wie der Sänger irgendwann ein Teil der Straße wird. Erst sie macht seine Songs lebendig. Nur wenn er sie Abend für Abend, vollgepumpt mit neuen Eindrücken, in immer neuen Varianten vorträgt, behalten sie ihre Vitalität.“
Ebenso vital ist „Closing Time“, das inzwischen „Ewigkeits-Status“ besitzt. Grund genug für die Plattenfirma, bei der Waits aktuell unter Vertrag steht, digital remastert und ausschließlich auf Vinyl zu veröffentlichen. Ein Geniestreich des Anti-Mainstreams. Michael Fuchs-Gamböck
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